Dörthe Eickelberg
Augen Unterschrift

Ausschnitt aus Reisetagebuch

Mittwoch, Hochland

Es regnete wieder, es regnete noch. Die Abkürzung, die wir uns auf der Straßenkarte ausgesucht hatten, führte geradewegs durchs Nichts. Kein Schild, kein Haus, keine Straßenlaterne, noch nicht einmal ein Reflektor am Straßenrand. Stattdessen nur Katinka, ich, unser Einkaufswagen und ein Wetter, das gerade zur Generalprobe anstimmte für “Die große Sintflut, Teil 2”. Wir suchten einen Mülleimer. „Fahrt so lange geradeaus, bis Ihr ein paar Lichter seht, und beim großen Mülleimer biegt Ihr ab“, hatte Kristinn gesagt. Kristinn, der reichste Mann Ost- Islands. Kristinn, der Schneehuhn- Jäger. Der große Mülleimer war in der Tat die einzige Straßenmarkierung weit und breit. Kristinn und seine sechs Jagdkumpanen umkreisten ein großes Grillrost auf der Terrasse, und als wollten sie uns schon zur Begrüßung ihre Zünftigkeit demonstrieren, trugen sie luftige Oberbekleidung. Den Tatbestand, dass unter ihren Füßen gerade ganz Ost- Island unterging, ignorierten sie demonstrativ. Die Jägermeister stellten sich mit sehr konsonantenlastigen Namen vor. „So, und jetzt betrinken wir uns“, kündigte einer der Sportsfreunde mit den unaussprechbaren Namen an. Mit bestechender Konsequenz wurde sein Plan in die Tat umgesetzt. Cognac, Wein und Wodka wurden aufgetischt, worauf ich noch ein paar deutsche Schnapsfläschchen aus meinem Privatimport hinterher warf. „Ich werde nur mal nippen“, verkündete ich. Aus Katinkas Glas. Wie durch ein Wunder füllte sich aber Katinkas Glas immer wieder von alleine; ein Nippen verging, ein Zum Wohl, ein Prost und ein Skol, denn man will ja nicht aus dem kulturellen Rahmen fallen, und in den Intervallen von Wimpernschlägen goss sich der Cognac aufs Neue ein. Die Heinzelmännchen, die dahinter stecken mussten, ließen derweil originelle Neuinterpretationen von lokalpatriotischem Volksliedgut erklingen, inklusive „An der Nordseeküste“ und der isländischen Nationalhymne.

Die Kamera zeichnete auf, was sonst verleugnet worden wäre, und wir alle hatten uns schrecklich gern. An den weiteren Verlauf des Abends konnte ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Katinka war so freundlich, mich zu meiner Schlafkoje zu begleiten. Kristinn war auch dabei, doch wie Katinka ihn gestützt hat, ist mir bis heute ein Rätsel.

Wenige Stunden später wurden wir von dem Lärm der Jägermeister geweckt, die mehrere Kisten voller leerer Cognac- Flaschen vor der Hütte entsorgten. Ich bemerkte, dass ich noch meine komplette Partybekleidung am Leib hatte. Das nächste, was ich bemerkte, war ein Kater, so groß, das hatte die Welt noch nicht gesehen. Das Spülbecken und ich wurden kurzzeitig die besten Freunde.

Kristinn heizte derweil den Wagen vor. Nach einer Aspirin zum Frühstück fuhren wir los. Für zwei Stunden fuhren wir durch nichts als Nebel. Himmel und Erde überblendeten ineinander, die Straße unter unseren Reifen, war es noch Asphalt oder schon Kondenswasser? Für Katinka und mich war nicht ersichtlich, ob wir uns neben, über, unter oder in einem Berg befanden. Wenn Kristinn uns erzählt hätte, dass hinter der nächsten Kurve der Rio Grande flöße oder das Ende der Welt klaffe, wir hätten es ihm zweifelsohne geglaubt. Doch Kristinn steuerte das Auto wie ein Schiff durch das Grau, als folge er überirdischen Eingebungen. Mitten im Nichts hielt er an. “Wir sind da”, sprach er zufrieden. Er schulterte sein Gewehr und stapfte los. Auf ins Grau, auf zur Jagd nach dem Schneehuhn. Katinka und ich stiegen aus dem Auto, gingen zwei Schritte und wussten nicht mehr, wo wir waren. Geschweige denn, wie wir jemals wieder zum Auto zurückfinden würden.

Wann hier das letzte Mal ein Menschenfuß seine Spuren hinterlassen habe, fragte ich Kristinn. Er überlegte. “Bis jetzt habe ich noch nichts weit und breit gesehen, und als ich das letzte Mal zwei Monaten hier herlief, war noch alles unberührt.”

Wir wanderten durch ein Gebiet, in dem sich seit Dekaden kein Mensch mehr hat blicken lassen, ohne auch nur im geringsten zu wissen, wo hinter den Nebelschwaden die nächste Manifestation von menschlichem Leben sei, und folgten einem 1,90 m großen Mann mit Gewehr und Ganzkörper - Tarnanzug.

Doch es bestand kein Grund zur Panik. Zum Beispiel dieser Ganzkörper- Tarnanzug: Er war über und über bedruckt mit tropischen Dschungelpflanzen. In einer Steppe aus Eis und Steinen erzielte diese Tarnung nicht wirklich den gewünschten Effekt. Wann immer Kristinn sich auf der Spitze eines Hügels umdrehte und geduldig auf uns wartete, musste ich mir Benjamin Blümchen vorstellen, wie er sich an einem Kiosk Lakritze bestellt.

„Wie wär's mit einer kleinen Schießprobe?“ Großartige Idee. Schon immer hatte ich mir nichts sehnlicher erträumt, als einmal verkatert mit einem Gewehr auf einen isländischen Stein zu schießen. Wenigstens gab es hier nicht viel, was man unbeabsichtigt hätte treffen können. Geschweige denn etwas, was man überhaupt treffen könnte. Also zielte ich ins Leere. Und traf daneben. Einen Knall später war mein Unterkiefer lädiert, mein rechtes Ohr taub und ich endgültig wach. Katinka aber stand die Waffe recht gut.

Wir stapften weiter, immer weiter über Geröll und Eis, als bewegten wir uns auf Mondkratern. Alle halbe Stunde blieb Kristinn abrupt stehen und horchte in die Stille hinein. War da nicht gerade ein Geräusch? Katinka und ich schwiegen. Wir waren uns nicht sicher, ob Nebel ein Geräusch von sich geben konnte. Kristinn aber folgte dem Ruf des Schneehuhns. Offensichtlich war die Frequenz der Schneehuhn- Rufe nur für isländische Ohren zu empfangen. Nach drei Stunden hatten wir noch immer kein einziges Huhn gesichtet. Geschweige denn irgend ein Tier. Oder irgend eine andere Lebensform. Mich beschlich der Verdacht, daß es diese Schneehühner überhaupt nicht gab. Vielleicht waren sie auch nur ein weiterer Gag in einer Reihe verrückter Einfälle des Fremdenverkehrsamtes.

“Und jetzt scharf links!” Der Nebel öffnete seinen Vorhang. Wir erkannten, daß wir die ganze Zeit an einem tiefen, großen See entlang gelaufen waren. Aufgeweckt vom Wind, schaukelte er Eisschollen auf und ab; tiefgefrorene Ungetüme, gähnend und zähneknirschend unter ihrem eigenen Gewicht. Mit jeder schwerfälligen Bewegung sonderten sie kalte Schuppen von ihrer Haut ab, krachend versanken sie im See. Alle Eisköniginnen dieser Welt wären sofort hierhin gezogen, hätte man ihnen nur von diesem See erzählt.

Kein Schneehuhn weit und breit, übrigens.

Doch das war egal. Während hier, im toten Winkel der Berge, Eisberge auf dem Bauch eines geheimen Sees baden, hielt die Zeit den Atem an, und nach einer Kette an Füllwörtern machten unsere Gedanken einen langen, klaren Absatz.

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