Dörthe Eickelberg
Augen Unterschrift

Die folgenden Zeilen beschreiben einen Abend in Reykjavik im Jahre 1973, als Ásatrú, die Anhängerschaft der germanisch nordischen Mythologie, als Religion staatlich anerkannt werden sollte. Die Beamten, alle protestantisch erzogen, weigerten sich zunächst. Dann aber kam es zu einem Gewitter, in Island ein äußerst seltenes Naturphänomen. So oder so ähnlich kann es sich damals zugetragen haben. Vielleicht ist es noch Geschichte, vielleicht ist es schon eine Sage.

Die Wolken hingen schwer und schlecht gelaunt über den Dächern des Gebäudes, in denen der Althing tagte. Das Ministerium für Religionsangelegenheiten befand sich in Raum 215 a. Sigurdur sollte den Schriftführer spielen heute Abend, schon wieder. Er hasste diese Aufgabe. Wenn man Gesprochenes 1 zu 1 mitschreibt, entlarvt sich erst dessen Banalität. Diese lexikalischen Irrwege, diese verbalen Verschwendungen, diese elendigen Füllwörter! Manchmal schrieb er alles auf, was gesagt wurde, jedes „Äh“ notierte er dann, jeden in die Leere gelaufenen Satz, jedes „irgendwie“ und „eigentlich“. Das war seine kleine Rache. Leider hatte es bisher noch niemand bemerkt.

Als er eintrat, waren alle schon da. Die eine Hand auf eine billige Tischdecke gestützt, die andere an eine Pfeife geklammert, stand Haukur im Raum und musterte die Beamten mit ironischem Blick. Sein schlohweißes Haar strahlte magisch im flackernden Licht der Neonröhren. „Warum müssen Heiden aber auch immer aussehen wie eine Karikatur ihrer selbst“, hatte Gunnar einmal gesagt. Gunnar hatte sich auf die Schnelle wieder die Haare mit einer Kuchengabel frisiert, angefeuchtet mit Leitungswasser, Sigurdur hatte ihn so einmal vor dem Toiletten- Spiegel beobachtet. Mit schleppendem Schritt, den Anzug nur notdürftig zugeknöpft, bewegte sich Gunnar aufs Kopfende des Tisches zu. Als er sich setzte, setzten sich auch die anderen.

Betont gelangweilt schlug Gunnar seine Akten auf. „Was haben wir denn heute... hhm... ach ja: der Antrag. Antrag zur staatlichen Anerkennung als Religion, ausgefüllt von ... Ásatrú.“ Haukur schnaufte. „Jedes Mal das gleiche Prozedere, Gunnar, jedes Mal tust du so, als hättest du den Namen Ásatrú noch nie gelesen. Du weißt genau, worum es geht!“ Gunnar befeuchtete seinen Zeigefinger und schlug die erste Seite auf. „Also, am Dienstag war die Abgabefrist abgelaufen, am Mittwoch dann habt ihr nachgereicht, wenn auch ein unvollständiges Formular...“ „Dieses Formular ist eine Schikane! Und die Wahl der Termine kann auch kein Zufall gewesen sein, warum ausgerechnet heute, am Donnerstag, dem Tag Thors, unseres Donnergottes...“ Gunnar verdrehte die Augen. Die Umsitzenden lehnten sich in ihren Sitzen zurück.

Sigurdur schaute zum Fenster hinaus. Der Himmel veranstaltete wieder seinen Sonnenuntergang, seit Stunden schon. Im Winter geht der Sonnenaufgang fließend in den Sonnenuntergang über, so dass man manchmal nicht wusste: War es noch Nacht oder schon Nacht? Dieser Tage befand man sich in einem einzigen diffusen Dämmerzustand.

Gunnar und Haukur diskutierten noch immer vom einen Tischende zum anderen. „Aber Haukur, wie stellst du dir das vor? Wie sollten wir denn bei zwei Religionen allein das mit den Feiertagen regeln – Ostern, zum Beispiel...“ „..habt Ihr uns auch nachgemacht. Wir hatten die Idee zuerst. Ostern kommt von „Osten“, da wo die Sonne aufgeht. Und das mit dem Osterei...“ „Altgermanisches Fruchtbarkeitssymbol, ja, Haukur, wissen wir... Dann nehmen wir halt Weihnachten...“ „..ist erst recht von uns...“ „Ja- ha!“

Der Himmel trug nun eine eigenartige Farbe, irgendwie - grün. Sigurdur schloss die Augen. Wenn er nun ganz lange die Augen geschlossen hielte, dachte Sigurdur, und sie dann wieder öffnete, würde dieser Raum dann kleiner sein als vorher? Räume sind im nachhinein immer kleiner, als man sie in Erinnerung hat. Das ist der bittere Nachgeschmack, wenn man an die Orte seiner Kindheit zurück kehrt: Die Hallen der Geister – ein Dachboden. Die verzauberte Wüste – ein oller Sandkasten. Aber nicht die Orte sind kleiner geworden, nein, man selbst ist größer geworden. Diese Erklärung erschien ihm als Kind immer plausibel. Doch dann traf Sigurdur seine Jugendliebe wieder. Seit ihrer letzten gemeinsamen Nacht hatte sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet, und die letzte gemeinsame Nacht hatte in der Zwischenzeit eine epische Länge angenommen. Mit jedem Tag, an dem sie sich nicht mehr meldete, war jedes zuletzt gesprochene Wort von ihr, jeder Blick, jede Bewegung bedeutend geworden, alles hatte im Rückblick nun eine Ambivalenz, eine ganz eigene Metaphorik; die Nacht hatte eine Meta- Ebene erreicht, war zur Sage geworden. Dann begegnete er ihr aus Zufall wieder. Im Supermarkt, vor dem Kühlregal. Was für eine Enttäuschung.

„Das werden wir hiermit festhalten“, sprach Gunnar. „Schriftführer!“ Sigurdur schreckte auf. „Der Antrag, Sigurdur!“ Gunnar blickte Sigurdur tadelnd an. „Schreibe bitte ins Protokoll: Antrag nicht stattgegeben.“ Sigurdur blickte auf sein Protokoll. Im oberen rechten Rand des Papiers fand er eine wackelige Zeichnung: Das Haus des Nikolaus. Er muss es wohl selbst gezeichnet haben, kurz bevor er eingeschlafen war. Verstohlen radierte Sigurdur die Zeichnung weg.

Gunnar sprach beruhigend auf Haukur ein. „Nächstes Jahr kannst du ja es noch mal versuchen, Haukur. Bis dahin hast du vielleicht die Beweise, dass Ihr genug Anhänger habt.“ Gunnar löste seinen oberen Hemdskragen und griff nach seiner Aktentasche. Der Fall war erledigt. Haukur aber sprang auf. „Beweise!“ Er spuckte das Wort in den Raum, verächtlich. Ein Lederband löste sich unter seinem Kragen, hervor blitzte ein kleines, glitzerndes Hakenkreuz.

Sigurdur ließ seinen Bleistift fallen. Langsam rollte er zur Mitte des Raumes. Haukur blickte Sigurdur an. „Das ist kein Hakenkreuz, das ist unser Sonnenrad, du Idiot. Wurde leider zwischenzeitlich zweckentfremdet, aber da können wir ja nichts dafür.“ Haukur steckte die Kette wieder unter den Kragen, schnellte dann ein paar Schritte auf Sigurdur zu und herrschte ihn an: „Ja, was glaubst denn du? Dass wir den ganzen Tag lang Heavy Metal hören und eimerweise Kinderblut trinken?“ Sigurdur zuckte zusammen. „Aber ich habe doch gar nichts...“ „Das ist auch besser so!!“ Sigurdur duckte sich unter seinen Tisch und suchte nach dem Bleistift. Der Linoleumfußboden wellte sich unter seinen Füßen wie ein ranziger Käse. Eine eigenartige Schwüle lag in der Luft.

„Beweise... “ Haukurs Arm langte nach dem Teller mit den Keksen. Er griff sich fünf Schokoladenwaffeln und steckte sie alle auf einmal in den Mund, unter wütendem Krachen zermalmte er sie zwischen seinen Zähnen zu einem großen Brocken, und während er ihn herunter schluckte, warf er den Hals in den Nacken und brüllte: „Du willst Beweise dafür, dass es uns gibt? Dann frag' doch mal nach bei den Leuten auf dem Land! Aber nein, ihr fragt nicht nach, ihr importiert lieber Religion im großen Stil, in Einheitsgröße, direkt aus dem Orient! Und ihr wisst auch genau warum: Nicht, weil ihr so gläubig ward damals und es besser wusstet, nein, weil ihr euch geduckt habt unter den Norwegern! Das war doch kein Gutmenschentum, das war Machtpolitik!“

„Haukur, das ist jetzt 1000 Jahre her. Wir haben uns damals geeinigt. Ihr durftet ja auch weiterhin eure Opferfeste feiern, da waren andere Länder weniger großzügig...“

„Aufgezwungen habt ihr uns eure Religion! Erpresst habt ihr uns! Unsere Identität habt ihr uns genommen, unsere Wurzeln! Bis dahin haben wir gelebt im Einklang mit der Natur.“ Gunnars Hände ballten sich unter dem Tisch. „Ach ja, habt ihr das?“ Gunnar bemühte sich, seine Stimme auf Zimmerlaufstärke zu halten. „Und was ist mit Eurer Moral? Und was ist mit Euren Göttern? Thor poltert immer nur im Himmel herum und kämpft mit einem Riesenwurm, Odin reißt sich sein Auge aus, um besser sehen zu können, und der Rest hängt in Walhall herum und schlägt sich besoffen die Köpfe ein! Ist das etwa ein Vorbild? Sollen wir Menschen von denen was lernen?“

„Und was ist mit euch?“ Haukurs Halsader schwoll an, er brüllte: „Ihr behauptet, dass der Mensch sich die Erde zum Untertan machen dürfe, und was macht ihr mit der Erde? Wringt sie aus wie einen alten Lappen! Spült die Würde der Tiere zum Klo hinunter! Geht mit der Natur um, als könntet ihr sie nach Gebrauch gleich wieder nachbestellen!“

Stille.

Haukur und Gunnar standen sich schnaubend gegenüber. Von der Thermoskanne auf der Tischmitte löste sich eine braune Träne kalten Kaffees. Sigurdur griff unauffällig nach einem Keks, den er unter seiner Serviette gebunkert hatte, es war der mit Zuckerrand, seine Lieblingssorte. Verstohlen schob er den Keks in den Mund. Langsam, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, setzte er an zu seinem ersten Bissen.

Ein markerschütternder Knall.

Eine Druckwelle erfasste den Raum, Sigurdur, Haukur, Gunnar, alle am Tisch zuckten zusammen. Dann noch mal dieses Donnern, noch lauter, noch entschiedener. Eine Neonröhre erzitterte. Alle drehten sich fragend zueinander um. War das ein ... Gewitter? Auf einmal war alles dunkel.

„Lieber Herrgott im Himmel...“

„Thor hat gesprochen.“

Keiner wusste, wer was gesagt hatte, doch keiner widersprach.

Sigurdur erinnerte sich an den magischen Felsen hinter dem Haus seiner Eltern. Es hieß, dass dort Elfen wohnten. Seine Eltern und er gingen nur auf Zehenspitzen an der Stelle vorbei, man wollte die Elfen nicht stören. Einmal im Jahr aber verließen die Elfen ihren Felsen für einen Familienausflug. Heimlich lauerte Sigurdur in dieser Nacht vor dem Zauberfelsen, er fror erbärmlich, aber er wollte die Elfen sehen, wenn sie ihre Behausung verließen. Für alle Fälle hatte den schwarzen Sand um den Felsen herum mit kleinen Stöckchen markiert, damit er später beweisen könnte, dass sich der Elfenfelsen tatsächlich bewegt hatte. Als er wieder aufwachte, fand er sich im Bett wieder. Seine Eltern hatten ihn schlafend nach Hause getragen. Doch am nächsten Morgen waren die Stöckchen verschoben, der Felsen hatte sich gedreht. Sigurdur erzählte niemand davon, dies war sein Geheimnis, nur er und die Elfen wussten davon. Jahre später erfuhr Sigurdur, dass die Nachbarskinder den Felsen verschoben hatten. Seitdem war für ihn der Elfenfelsen nur noch ein grauer Stein.

Es war still geworden um in Raum 215 a.

Sigurdur fragte sich, wie lange schon der Stromausfall andauerte im Regierungsgebäude.

Mit der Dunkelheit hatte er die Orientierung verloren. In dem Moment sprang zuckend wieder das Licht an. Die Umsitzenden schauten zu Boden, vielleicht, weil die Neonröhre so blendete. Schmatzend landete ein Stempel auf einem Formular, mit einer betont beiläufigen Handbewegung kritzelte Gunnar seine Unterschrift. Ein kurzes Nicken, und die Aktenordner klappten zu. Haukur lächelte. „Darf ich die Damen und Herren nächste Woche zu unserem offiziellen Blót einladen?“ Gunnar reichte Haukur die Hand. „Nur, wenn ihr am nächsten Morgen alle zum Gottesdienst kommt. Egal, wie groß der Kater ist.“ Draußen funkelten wieder die Sterne.

Publiziert im »Schöngeist« (Winter 2006)

 

Nach oben