Dörthe Eickelberg
Augen Unterschrift

Auszug aus Reisetagebuch

Montag, Vancouver

Abends um sieben holte mich der Krankenwagen ab. Erste Station: ein Fast- Food- Café. Fernando und Greg warteten auf den ersten Notruf. Es war noch zu früh für Mord und Totschlag. „Ich hoffe, wir können dir diese Nacht noch was bieten“, sprach Fernando. Ich lächelte schief. Ich hatte Fernando und Greg erst kürzlich kennen gelernt, bei einem Fahrradunfall. Meine Schulter war nicht der Rede wert, und es war mir sehr unangenehm, dass die beiden Jungs mit Blaulicht angefahren kamen, nur um mich von der Straße aufzulesen. Da ich für die beiden also ein so langweiliger Fall war, hielt ich es für angemessen, die beiden zumindest in ein spannendes Gespräch einzubinden. Titel: Beruf und Berufung eines Rettungssanitäters. Aber Greg und Fernando waren keine Männer der großen Worte. „Wenn du wissen willst, wie dieser Job ist, dann fahr' einfach einmal mit“. Ich wollte es wissen. Die Kellnerin schenkte Kaffee nach, es war acht Uhr.

Der erste Notruf. Eine Frau H. im Westend. Greg und Fernando sprangen vom Sofa auf, ich folgte ihnen wie ferngesteuert zum Krankenwagen. Die Motoren heulten im Takt mit den Sirenen, für Greg schlug die tägliche große Stunde, er sollte den Wagen lenken. Über Bordsteine hinweg, vierspurige Schnellstraßen kreuzend, peitschte Greg das Geschoss zum Ziel. Der Feuerwehrwagen, immer zur Stelle, wenn Sauerstoff gefragt sein könnte, kam uns in Gegenrichtung auf der Einbahnstraße entgegen. Unter quietschenden Reifen bremsten wir vor der Haustür und rannten zum Aufzug. „12. Stock!“ rief der hintere der drei Feuerwehrmänner außer Atem, nahm Anlauf und landete in letzter Sekunde in der Kabine. Donnernd klatschten die Fahrstuhltüren aufeinander. Für einen flüchtigen Moment Stille. Aus dem Lautsprecher eine heitere Fertigmelodie. Der Lift hatte es nicht eilig. 2. Stock. Ein Feuerwehrmann pfiff der Lautsprecher- Melodie hinterher. 5. Stock. Wie denn die Schicht bisher so gelaufen wäre. „Och, stabil“, murmelte man einstimmig, „das übliche.“ 10. Stock. „Ach, Frau H., jetzt erinnere ich mich“, warf Fernando ein, „das ist doch die Dame, deren Mann wir schon so oft besuchen mussten, weil...“ 12. Stock. Die Fahrstuhltür öffnete sich, die Feuerwehrmänner stürmten die Wohnung.

Frau H. hatte Kopfschmerzen. Starke Kopfschmerzen. Frau H. thronte auf einem Biedermeier- Sessel, eingebettet in etliche Spitzenkissen. Ihre Erscheinung hatte sich so gut in die Kisseninstallation eingefügt, dass man nur noch unter Schwierigkeiten ausmachen konnte, wo die Kissen aufhörten und wo Frau H. anfing. Fernando untersuchte Frau H.'s Herzschlag, Greg erfühlte ihre Temperatur. Beide tänzelten mit ihren Instrumenten um sie herum und beratschlagten sich. Frau H. lächelte selig. „Ich habe gute Nachrichten für Sie, Love“, attestierte Greg, „Sie müssen nicht ins Krankenhaus.“ Für einen Moment sah Frau H. enttäuscht aus. Im Hintergrund packten die Feuerwehrmänner seufzend die Sauerstoffflaschen wieder ein und verabschiedeten sich. Fernando und Greg flankierten Frau H. und hielten je eine Hand, Frau H. lächelte wieder. „Wie geht es Ihrem Mann, Frau H.?“ fragte Fernando. „Er ist gestorben.“ „Oh. Das tut mir leid. Wie geht es Ihnen?“ „Gut“, sagte Frau H. „Bis auf die Kopfschmerzen.“ Sie winkte zum Abschied.

„Ich glaube, sie mag mich“, schwärmte Fernando, beim Hinausgehen. „Sie ist ja jetzt wieder solo“, bemerkte Greg.

Der nächste Anruf. Ein Autounfall in China Town. Zwei Vans waren an einer Straßenkreuzung ineinandergekracht. Die Blinklichter der herbeigeeilten Krankenwagen zuckten auf Glas- und Plastikscherben in ölschimmernden Lachen. „Ich wollte doch nur eben was zu essen holen“, stotterte die Fahrerin wimmernd, beinahe trotzig. Ihr englischer Name war Harmony.

„So, did you have fun so far?“ fragten Fernando und Greg. Sie schauten mich erwartungsvoll an. Nächster Fall. Ein geflüchteter Beinah- Selbstmörder. Die Hände hinter dem Rücken an Handschellen gekettet, lag er vor dem Hintereingang eines Drugstores. Die Antidepressiva waren in Verbindung mit dem Alkohol in gegenteilige Wirkung umgeschlagen. Mit lahmer Zunge stieß er Drohungen aus, dann trat er um sich, erstaunlich schnell. Die Polizisten hatten Mühe, den Mann auf der Liege festzuschnallen. „Ich finde heraus, wer du bist, und dann bist du dran“, nuschelte der Patient tonlos. Fernando fand den Ausweis in der Jackentasche und notierte die Daten. B., 21 Jahre alt. Auf dem Photo lächelte er freundlich und trug eine lustige bunte Strickmütze; genau die, die er vorhin im Kampf verloren hatte und die ich ihm nun hinterher trug. B. spuckte kommentarlos gegen den gläsernen Medikamentenschrank.

„Du bist doch ein Stück Scheiße!“ fluchte Fernando und zückte den Desinfektionsspray. B. Gesicht wurde mit einem Handtuch zugedeckt. „Vorsicht, er ist ein Spucker“, kündigte Fernando die Ankunft von B. im Krankenhaus an. Ein müder Pfleger suchte nach einem Mundschutz. B. lag auf dem Rollbett in der Ecke und sprach gedämpft mit seinem Handtuch. „Hallo. Ist da wer? Hallo....“

Greg steuerte mit leuchtenden Augen die frisch bereit gestellte Süßigkeiten- Auslage auf dem Empfangstisch an. Ich diskutierte derweil mit Fernando darüber, ob dieser Patient ein Arschloch SEI oder ob er sich nur wie eines VERHALTE, veranlasst durch eine chemische Überreaktion in seinem Hirn. „Mach du diesen Job mal für ein paar Jahre, dann machst du dir darüber keine Gedanken mehr.“

B. wurde von mehreren Sicherheitsbeamten gleichzeitig an Händen und Füßen festgeschnallt. Das Handtuch blieb auf seinem Gesicht. Seine Mutter fragte an, ob sie ihn besuchen kommen könne. „Vielleicht besser morgen“, riet ihr die Schwester am Telephon. Greg schlug mir vor, das nächste Mal an einem Wochenende mitzufahren. „Das wird dann erst ein richtiger Spaß“, versprach Fernando. Der nächste Anruf.

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