Dörthe Eickelberg
Augen Unterschrift

Bangkok.

Lächelnd zog sie an meinem linken großen Zeh. Es knackte. Sie nickte. Es war fünf Uhr.

"At what time is the sun going to set here?" fragte ich die Masseurin. "Yes", sagte sie. "Ah..." Eine halbe Stunde Massage in dieser Kabine hatte ich mir ausgerechnet. Passte genau in die Zeitlücke vor Eintreffen meines ersten südostasiatischen Sonnenuntergangs. Dann noch mindestens drei Tempelbesuche, - die könnte ich gut mit dem Sonnenuntergang verbinden, - auf dem Weiterweg Mitbringsel kaufen, ein paar Buddha- Schlüsselanhänger und natürlich die ewig winkende Katze, am nächsten Morgen dann mit dem Bus gen Süden, schnell braun werden, einmal auf einem Elefanten reiten, auf Ko Pagnan die Vollmond- Party mitnehmen, dazu gegebenenfalls noch eine bewusstseinserweiternde Droge und einen australischen Surferboy einpacken, und dann habe ich aus meinem 4 Tagen in Thailand das beste rausgeholt.

20 nach fünf. Die Masseurin presste meinen Zehnagel, als befände sich dort ein schwer zu betätigender Schalter.

Halb sechs. Mein Zeh schmerzte.

Viertel vor sechs. Mit einem fragenden Blick tippte ich auf meine Armbanduhr. Die Masseurin lächelte zurück, holte aus und bohrte ihren Zeigefinger entschlossen in meine Wade. Ein exotischer Schmerz. Ich nickte dankbar. Immerhin war nun ein anderes Körperteil dran.

10 nach sechs.

Zur Not könnte ich den verpassten Sonnenuntergang noch am nächsten Morgen nachholen, dann wäre es nur halt der Sonnenaufgang. Die Masseurin setzte an, meine Wadenmuskeln auszuwringen. Aber nein, vor Sonnenaufgang fährt ja schon der Bus ab in Richtung Süden.

Halb sieben.

Da fiel mir ein: ich hatte ja für die Fahrt noch gar kein Busticket!

Sieben Uhr. Ich bemerkte mit Schrecken, dass ich hier in der Kabine die einzige war, die eine Armbanduhr trug. Die Masseurin traf einen bisher unentdeckten Muskel unterhalb der Lymphdrüsen.

Acht Uhr. Aua.

Halb neun. Warum tat der Staat nichts dagegen? Wenn jeder Thai sich jeden Tag bis zur Besinnungslosigkeit massieren lässt, wie soll dieses Land jemals in eine Konjunktur kommen?

Neun Uhr. Die Masseurin kletterte auf meine angezogenen Knie, so dass ihre Hüfte gerade auflag, beugte ihren Oberkörper wie den einer Kobra und streckte beide Beine von sich.

Ihr Körper lag nun freischwebend in der Luft. Es war mir ein Rätsel, wie sich diese Position mit den Gesetzen der Schwerkraft vereinbaren ließ. Von weitem hörte man, wie sich die Massage- Kollegen voneinander verabschiedeten. Im Flur schaltete jemand das Licht aus. In unserer Kabine eine hochkonzentrierte Stille. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir: "Urlauberin in Bangkok zu Tode massiert." Sie schwebte noch immer. Eine einzelne Schweißperle tropfte von ihrer Stirn direkt in mein rechtes Auge. Ich ließ mir nichts anmerken. Die Masseurin sank zurück vor meinen linken Fuß und zog an meinem großen Zeh. Es knackte, sie nickte. Panik beschlich mich. War ich in eine Zeitschleife geraten? Würde ich je wieder hier raus kommen? Wie sollte man mich hier finden? Und wer würde mich überhaupt suchen? Ich wollte um Hilfe rufen, doch aus meinem Mund drang nur noch ein stummes Lallen. Mein Unterkiefer hing kraftlos auf meiner Brust, die Muskeln konnten ihn nicht mehr halten. Der Schlafanzug, den man mir anfangs zum Anziehen gegeben hatte, passte gut zum Blumendekor an der Decke über mir. Ich hatte die Blüten gezählt. Es waren 82. Ich zählte sicherheitshalber noch mal nach. Ach ja... Die Zimmerpflanzen wurden mir so langsam richtig sympathisch. Ich wollte auf meine Uhr schauen, doch ... ach nee. Dafür müsste ich ja erst noch meinen Arm heben. Ich wusste nun, wie es ist, eine Kaulquappe zu sein. Oder ein Pantoffeltierchen. Oder auch einfach nur eine Schale ungesalzener Reis. Alles war hier und jetzt. Kein Verlangen, kein Mangel, kein Plan. War das das Geheimnis des Buddhismus?

Ein Händeklatschen weckte mich auf. "Tip!" rief die Massage- Frau und streckte lächelnd ihre Hand aus. Es war das erste englische Wort, das sie sprach.

Draußen ging die Sonne auf. Oder unter? Meine Uhr war stehen geblieben. Als ich vor der Ampelkreuzung stand, fiel mir auf, dass ich barfuß war. Und überhaupt trug ich ja immer noch den Schlafanzug. Ein amerikanisches Ehepaar musterte mich verstohlen. "Schau nur, wieder so eine Rucksackreisende auf Drogen." Ich lächelte. Sie lächelten zurück.

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